Handschrift:
Durch die Handschriftenbeschreibungen von Anton Kern und Anton Schönbach ist bekannt, dass der Codex lateinische geistliche Texte enthält (Jacobus de Lausanna: ‚Compendium moralitatum‘, Predigten u.a.). Auf den Blättern 1r-66v befinden sich zwischen den Kapiteln und auf freien Zeilenresten des ‚Compendium‘ deutsche Eintragungen, die offenbar fragmentarisch (durch Blattbeschnitt?) und laut Schönbach so „höchst seltsam“ sind, dass sie wohl „ein erotisch irrsinnig Gewordener“ verfasst haben dürfte. Diesbezüglich geht er davon aus, dass die Schreiberhand, die den jeweiligen Beginn der einzelnen Abschnitte des ‚Compendium‘ mit roten Initialen versehen hat, auch die Eintragungen vorgenommen hat, indem sie
„die vom Schreiber freigelassenen Räume mit diesen Initialen auszufüllen hatte, [und] die Gelegenheit [nutzte], den Platz, der auf der letzten Zeile des vorangehenden Abschnittes übrig geblieben war, zu den wunderlichsten rothen Eintragungen zu verwerten, die mit dem Contexte nicht bloß in keinem Zusammenhange stehen, sondern sehr wenig dazu passen. […] Es ist mir aber widerwärtig, mich mit diesem Gegenstande noch weiter zu befassen.“
Der nachfolgende Auszug der Abschrift Schönbachs mag beispielhaft die vielleicht anzüglichen Inhalte veranschaulichen sowie die „Mischung der Mundarten“: Während Schönbach den „Weibernamen“ schwäbische Formen attestiert, scheinen ihm „Lautumgebung und Wortschatz bajuvarisch“.
Textproben aus Schönbachs Transliteration:
Nr. 25b: roseli (nhd. Roseli)
Nr. 25c: so so he he (nhd. so so he he)
Nr. 26a: sy smuczot (nhd. sie schmunzelt / juckt sich)
Nr. 26b: er truczott – ars stuczot (nhd. er neckt – der Arsch stößt / scheut)
Nr. 33d: huz an in (nhd. erkühne dich an ihm)
Nr. 44a: la gen – fraz mecz (nhd. lass es sein – Frau Metz)
Kommentar
Ende des 18. Jahrhunderts kam es in Österreich durch Joseph II. zu zahlreichen Klosteraufhebungen („Josephinischer Klostersturm“) und in deren Folge zur Auflösung klösterlicher Bibliotheksbestände. In der Steiermark gelangte ein Großteil dieser Buchbestände an die (heutige) UB Graz. Erst der Grazer Bibliothekar Anton Kern begann hier mit der systematischen Katalogisierung und Beschreibung der mittelalterlichen Manuskripte; der dritte und letzte Band dieses Katalogs wurde durch Kerns Nachfolgerin Maria Mairold im Jahr 1967 fertiggestellt. Während Kern für die Ms. 822 noch eine Beschreibung liefert, weist Mairold neben der Handschrift Ms. 822 auch weitere Codices als „seit 1945 verschollen“ aus.
Aus Briefkorrespondenzen und Akten aus der Zeit zwischen 1941 und 1949 im Archiv der UB Graz geht hervor, dass der Bestand mittelalterlicher Handschriften im Jahr 1942 zum Schutz vor Luftangriffen zuerst im hauseigenen Gewölbekeller versteckt und ab 1944 dann in Kisten verpackt an vier verschiedenen Orten ausgelagert wurde: Insgesamt wurden 772 Bücherkisten ins Schloss Pux bei Teuffenbach im oberen Murtal, in die Kapuzinerkirche Schwanberg, nach St. Georgen an der Stiefing und ins Schloss Welsberg bei St. Martin in der Weststeiermark gebracht. Vom Standort Schloss Welsberg wurden 30-40 Kisten von Soldatentruppen entwendet und erst nach Leibnitz, dann nach Maribor verfrachtet. Die Website der UB Graz gibt an, dass insgesamt 200 Handschriften, einschließlich der Handschrift Ms. 822, abhandengekommen sind. Das Rätsel um ihr Schicksal bleibt bis heute ungeklärt und lässt Raum für Fragen:
- Ist die Handschrift Ms. 822 möglicherweise plündernden Soldatentruppen zum Opfer gefallen?
Ein Zeuge berichtete 1945 an die Uni Graz, dass einige der ausgelagerten „Bücherkisten erbrochen“, deren Inhalte zu „Briefumschlägen und Briefbögen geformt“, gar von Soldaten „an den Waldrändern für ‚private‘ Zwecke genutzt“ oder gestohlen worden seien („Welsberger Verluste“). Neben der Zerstörung dieser einzigartigen Kulturdenkmäler wurden Handschriften häufig auch als Kriegsbeute der Besatzungsmächte von ausländischen Bibliotheken einverleibt. Diese Bestände sind heutzutage freilich weitgehend dokumentiert. - Könnte es sein, dass sich die Handschrift Ms. 822 in Privatbesitz befindet?
Zuweilen werden Codices, die in den Wirren des Kriegsendes in Privatbesitz gelangt sind, von nachfolgenden Generationen in ihrem Wert erkannt und wieder an wissenschaftliche Einrichtungen übereignet oder durch den privaten Verkauf an bibliophile Sammler:innen zu Profit gemacht. Von den verschollenen Handschriften der UB Graz kam bislang lediglich die Ms. 546 wieder nach Österreich zurück. Die Handschrift wird heute an der ÖNB Wien verwahrt. Von Ms. 822 fehlt nach wie vor jede Spur.
Literatur
- Bergmann-Pfleger, Katharina: Geschichte der Universitätsbibliothek Graz 1938-45. Wien, Univ., Diss. 2010.
- Kern, Anton: Die Handschriften der Universitätsbibliothek Graz, Bd. 2 (Handschriftenverzeichnisse österreichischer Bibliotheken, Steiermark 2), Wien 1956, S. 60f.
- Schönbach, Anton Emanuel: Miscellen aus Grazer Handschriften, dritte Reihe, Sonderabdruck aus den Mittheilungen des historischen Vereins für die Steiermark XLVIII, Graz 1900.
Hannah Bönisch und Anna Weber, Projektarbeit im Rahmen des Seminars „EX Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann