Universitätsbibliothek Graz, Ms. 1228 (fol. 32vb)
Papier, 81 Bl., 210 x 130mm, 2. Hälfte 14. Jhd., Provenienz unbekannt
Handschrift:
Die lateinische Sammelhandschrift enthält eine recht heterogen anmutende, vermutlich für den Schulgebrauch bestimmte Zusammenstellung von Texten (wie etwa Ps.- Boethius’ De disciplina scolarium oder Adamus’ Teutonicus Summula cum glossis interlinearibus u.a.). Darunter finden sich auch verschiedene deutsche Texte, u.a. ein mantischer Text, der einzelne Buchstaben des Alphabets mit Aussagen zur Zukunft in Beziehung setzt und somit eine Möglichkeit der Traumauslegung bietet. Der wohl auf eine gemeinsame Quelle zurückgehende deutsche Text zur Traumdeutung ist in insgesamt drei deutschsprachigen Fassungen überliefert (Wien, ÖNB Cod. 2245; Karlsruhe, LB, Cod. Donaueschingen 793 sowie in der Grazer Handschrift). Die Grazer Fassung beschränkt sich auf knapp eine der zwei Spalten, die jedes Folio der Handschrift aufweist.
Text
(fol. 32vb) So dir des nachtes icht traum, welstu dez ze ende ch=men, so liz dez morgens den salm Miserere mei deus etc. Dar nach nim ein salter vnd tuͦ den auf in dem namen dez vaters vnd des sun etc. Vnd den ersten puͦchstab oben an dem blad, den solt du merchen.
A daz bezaichent langez leben oder grozzen gewalt B michel fraut oder signu[n]ft gab C siechtum oder toetten etc. D truebsal oder tode E edel geborn oder liebes traut F fraismuͦt ze allen dignen G wandelung oder eins veintes neid H eines weibes swaer oder ir tod I veppigeun freud K reichtum oder michlen ere L lang sorgen oder siechtum M freud veberlaud vmb swaz dir lieb ist N grozz huld oder michel ere O der gewald an dei[n]em leibe P sailiges leben Q suntleich oder schentleich leben R siechtum oder wunden S manslacht oder grozzen zorn T grozzen toten V du siechst lieben freunt X dez du g[e]r[n]e gerst daz erget Y grozzer streit Z grozz herschaft etc.
Übersetzung
„Wenn du des Nachts etwas träumst, was du deuten willst, dann lies am Morgen den Psalm Miserere mei deus (Ps. 51). Danach nimm den Psalter und schlage ihn im Namen des Vaters und des Sohnes etc. auf. Den ersten Buchstaben am Blatt oben sollst du dir merken:
A bezeichnet langes Leben oder große Macht, B große Freude oder ein Triumpf, C Krankheit oder Tod, D Trauer oder Tod, E ein/e hochgeborene/ oder liebe/r Geliebte/r, F Schreckliches in allen Angelegenheiten, G Veränderung oder der Neid eines Feindes, H das Leid oder der Tod einer Frau, I üppige Freude, K Reichtum oder große Ehre, L andauernde Sorgen oder Krankheit, M große Freude um was dir lieb ist, N große Huld oder große Ehre, O Macht, P ein seliges Leben, Q ein sündiges oder schändliches Leben, R Krankheit oder Verwundung, S Mord oder großer Hass, T großes Sterben, V du siehst einen lieben Freund, X was du gerne hättest, wird erfüllt, Y großer Streit, Z große Herrschaft etc.“
Kommentar
In der Einleitung der Ausführungen zur Traumdeutung wird dem Benutzer/der Benutzerin erklärt, wie vorzugehen ist: Nachdem Erwachen aus dem Traum soll sogleich der 51. Psalm gelesen werden; anschließend soll der Psalter auf einer zufälligen Seite aufgeschlagen werden. Den ersten Buchstaben am oberen linken Rand (wohl des recto-Blattes) soll man sich merken und unter diesem Buchstaben im Traumbuch nachlesen.
Optisch stechen die Buchstaben des Traumdeutungs-ABCs aufgrund der Rubrizierung mit roter Tinte heraus, was eine leichtere Orientierung im Text ermöglicht. Die Anzahl der Buchstaben des mittelalterlichen Alphabets entspricht dem lateinischen Alphabet der spätantiken Grammatik und besteht aus 23 Buchstaben (Halbvokal J = I, Halbvokal W und Vokal U = V).
Durch die Integration des Zufalls in die Auslegung des Traums kann die Fassung dem Typ C der bekannten mittelalterlichen Traumbücher zugeordnet werden, die wohl auf den alttestamentlichen Traumdeuter Joseph von Ägypten zurückgeht. Die Bedeutung des Traums ist dabei nicht aus dessen Inhalt ableitbar. Während in den Fassungen aus Wien und Donaueschingen die Buchstaben paarweise thematische Einteilungen aufweisen (z.B. A und B thematisieren Gewalt, X und Y hingegen Positives), ist diese Zweiergruppierung in der Grazer Fassung nur in Teilbereichen vorhanden. C und D stimmen etwa dahingehend überein, dass sie Krankheit und Tod verkünden und folgen somit dem paarweisen Schema; dem gegenüber verkünden die Buchstaben Q, R, S und T als Viergruppe Unerfreuliches für die Zukunft. Im Allgemeinen ist in der Grazer Fassung ein deutlicher Überhang negativer Aspekte und Themen festzustellen. Viel Glück also all denjenigen, die das mittelalterliche Traum-ABC ausprobieren möchten!
Literatur
- Anton E. Schönbach, Bedeutung der Buchstaben, in: ZfdA 34 (1890), S. 1-6.
- Peter Assion: Art. ‚Bedeutung der Buchstaben‘. In: Verfasserlexikon. Die Literatur des Mittelalters, Bd. 1 (1978), S. 665f.
- Digitalisat der Handschriften: https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ubg:2-34011
Miriam Pilko und Lisa Temmer, Projektarbeit im Rahmen des Seminars „VU Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann