Universitätsbibliothek Graz, Ms. 530 (fol. VSr)
Pergament/Papier, 96 Bl., 31 x 21 mm, ca. 1400, Benediktinerstift St. Lambrecht
Handschrift
Der Codex enthält in seinem Hauptteil die lat. Expositio super libros Augustini de civitate Dei des Nicolaus Trevet sowie des Thomas Waleys, darüber hinaus auf dem Vorsatzblatt einige Texte aus mittelniederl. Lyrik Peters von Arberg sowie die Federzeichnung einer Mappa Mundi (VSr). Die Handschrift ist sorgfältig, aber doch recht einfach gestaltet mit sehr schlichten Initialen, Rubrizierungen, vereinzelten Marginalien und zahlreichen Unterstreichungen. Mit Ausnahme der Mappa Mundi enthält sie keine Illustrationen, und selbst diese Weltkarte findet sich nicht im Textblock, sondern auf dem Vorsatzblatt der Handschrift.
Kommentar:
Wenn im Titel der Objektbeschreibung „Orientierung“ erwähnt wird, ist bei mittelalterlichen Mappae Mundi nicht die geographische Orientierung gemeint, sondern eine spirituell begründete Sicht auf die Welt als einem heilsgeschichtlichen und mythologischen Schauplatz. Der Osten/Orient ist dabei zentraler Bezugspunkt der Heilsgeschichte. Biblische Schilderungen, Überlieferungen aus der Antike und Reiseberichte verschmelzen in dieser Zeit zu einer Weltsicht, die vom christlichen Glauben geprägt ist.
Die vorliegende Mappa Mundi gehört dem Typus der Radkarten oder sog. TO-Karten an, was ihrer kreisrunden Form und dem inneren dreiteiligen Aufbau geschuldet ist. Dargestellt sind die damals bekannten drei Kontinente Asien (oben), Europa (unten links) und Afrika (unten rechts). Diese sind von den drei Völkerschaften der Menschheit besiedelt, wie sie nach Erzählungen der Bibel als Nachkommen von Noahs Söhnen Sem, Japhet und Cham beschrieben werden.
Wie bei den Radkarten üblich, ist auch diese Karte „geostet“. Denn dort im Osten, weit jenseits von Indien, wurde das Paradies vermutet, woher auch Jesus Christus am Tag der Auferstehung wiederkehren soll. Das erklärt auch die West-Ost-Ausrichtung der meisten christlichen Kirchen. Der Westen befindet sich auf der Karte unten, wo die Beschriftung auf die Säulen des Herakles (Gibraltar) hinweist, dem Ende der Welt nach damaligem Verständnis. Die Kontinente werden vom Ozean umschlossen, an weiteren Gewässern sind unter anderem der Hellespont (die heutigen Dardanellen), das Mittelmeer und das Rote Meer eingezeichnet. Beschriftungen weisen einzelne Regionen, beispielsweise Indien, Mesopotamien, Äthiopien, Skythien, aber auch Kalabrien, Griechenland oder Alemannia aus. Am Rand der kreisförmigen Darstellung sind mit roter Tinte die Windrichtungen eingezeichnet, die in einem äußeren Kreis in schwarzer Tinte näher erläutert werden. So findet man mit Boreas den kalten Nordwind, Zephyr den milden Westwind, Euros den Ostwind und Auster, den gewitterbringenden Südwind. Ganz außen sind die Himmelsrichtungen angegeben.
Die mittelalterlichen Weltkarten wurden teilweise mit umfangreicheren Darstellungen von geographischen Details, biblischen Szenen und Fabelwesen angereichert. In manchen solcher Karten findet man im Mittelpunkt Jerusalem als irdisches Zentrum der Welt und Gegenstück zum himmlischen Jerusalem eingezeichnet sowie zahlreiche weitere Details der Heilsgeschichte. Besonders häufig und oft auch graphisch hervorgehoben ist die Darstellung des Paradieses und des Sündenfalls am oberen Rand des Erdkreises. Besonders reichhaltig ausgestaltete Karten, beispielsweise die Karte von Hereford aus dem 13. Jahrhundert oder die Ebstorfer Weltkarte (um 1300), zeigen Gebirge und Flüsse, zahlreiche Städte, menschliche Figuren und – meist am südöstlichen Rand der bekannten Welt – sagenhafte Fabelwesen und Monster. Aber auch diese aufwändigen und mit Kommentaren versehenen Karten verwenden das dreiteilige Schema der Kontinente, das seit dem Frühmittelalter Standard ist. Vorbild und Wegbereiter für die weite Verbreitung dieses Kartentypus waren die um 623 entstandenen Etymologiae des Isidor von Sevilla, der im 6. Jahrhundert in Karthago geboren wurde und später Bischof von Sevilla war. Er hat das damalige im westlichen Mittelmeerraum verfügbare und das aus der Antike noch vorhandene Wissen in umfangreichen Werken zusammengefasst und war einer der meistgelesenen Autoren des Mittelalters. Auf ihn geht auch die Lokalisierung des paradisus terrestris, des irdischen Paradieses im äußersten Osten, zurück.
Neben solchen prachtvollen und großformatigen Weltkarten haben sich einfache Ausführungen wie die vorliegende als leicht verständliche spirituelle Orientierungshilfen noch lange Zeit erhalten. Wenn sich die Mappa Mundi der Ms. 530 im Vergleich auch deutlich schlichter und weniger detailliert präsentiert als die berühmten und vielfach beschriebenen Werke, ist sie doch ein wertvolles Zeugnis der mittelalterlichen Weltsicht und Orient-ierung (im eigentlichen Wortsinn).
Literatur in Auswahl
- Johannes Gießauf: Mittelalterliche Weltkarten als Wissensspeicher. In: Mittelalterliche Wissensspeicher.
- Interdisziplinäre Studien zur Verbreitung ausgewählten 'Orientierungswissens' im Spannungsfeld von
- Gelehrsamkeit und Illiteratheit. Hrsg. von Wernfried Hofmeister unter Mitarbeit von Andrea Hofmeister-Winter.
- Frankfurt am Main: Lang 2009. (= Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit. 3.)
- S. 62–73 und 187–191 (Abbildungen).
Digitalisat: https://unipub.uni-graz.at/obvugrscript/content/pageview/6366404
Karl Scherer, Projektarbeit im Rahmen des Seminars „EX Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik (Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann)