Pergament, 233 Bl., 270 x 200mm, 13. Jhd./15. Jhd., Chorherrenstift Seckau
https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ubg:2-26069/fragment/page=5627348
Handschrift
Der Codex Ms. 204 dürfte im Gebrauch der Seckauer Chorfrauen gewesen sein, denn er weist die typischen, mit bunten Seidenfäden vorgenommenen Vernähungen auf (z.B. fol. 43rv). Der Codex enthält einen lateinischen Psalter (Teil 1, fol. 1-136) aus dem 13. Jhd. sowie ein Brevier (Teil 2, fol. 137-232) aus dem 15. Jhd. Im älteren Psalter finden sich zu Beginn jedes Psalms deutschsprachige Randbeischriften in roter Tinte. Die von der Forschung als „Gebetsanweisungen“ ausgewiesenen Einträge, die bereits seit dem 12. Jhd. auch in anderen lateinischen Psalterhandschriften als Erläuterungen der Psalmworte für Betende vorkommen, sind in der Seckauer Handschrift freilich nicht als Anweisungen zu verstehen; auch handelt es sich allenfalls in Einzelfällen um deutsche Übertragungen der lateinischen Psalmenüberschriften. Im Ms. 203 stellen die deutschen Beischriften die einzelnen Psalmen vielmehr in einen (heils-)geschichtlichen oder typologischen Zusammenhang (oft auf vager Grundlage der Bücher Samuel): Mit inhaltlichem Bezug auf den entsprechenden Psalmentext wird jeweils erläutert, in welchem „historischen“ Kontext König David, der als Verfasser der Psalmen gilt, die einzelnen Psalmen geschaffen habe.
Textbeispiele
Beischrift zu Ps 1,1 (Beatus vir)
(fol. 1r). Dauit der was vol des heiligen geistes do machet er den ersten salm von dem heiligen geiste damit er di gvͦten laitet in dirre werlt nach gotis hvlden. Den salm machet Dauit do man in sazte vf den stvͦl des riches. Vgl. 2 Sam 5,3
Übersetzung: „Als David vom Heiligen Geist erfüllt war, schuf er den ersten Psalm vom Heiligen Geist, um damit die Guten nach der Gnade Gottes in dieser Welt zu leiten. Den Psalm dichtete David, als man ihn auf den Thron des Reiches setzte.“
Beischrift zu Ps 17,2 (Diligam te Domine)
(fol. 12r) Do Dauit alle sine vinde vber want inner beiden richen ze Bethlehem vnd ze Ierusalem mit fride was so saz er vor der arch vnd herphete disen salm vnd svngen sine chore daz lob vnd spranc Ydithvn vnd rottet Asaph vnd giget Eman. Vgl. 2 Sam 6,17-19 (?)
Übersetzung: „Als David alle seine Feinde in beiden Reichen zu Bethlehem und zu Jerusalem überwunden und befriedet hatte, da saß er vor der Bundeslade und spielte diesen Psalm auf der Harfe. Und seine Chöre sangen das Gotteslob und Jedithun tanzte und Asaph spielte die Rotte und Heman die Fiedel.“
Kommentar
Das Folio 1r der Handschrift kann einen Eindruck davon vermitteln, dass Multimodalität keine Erscheinung der Neuzeit ist, sondern bereits in mittelalterlichen Handschriften durchaus geläufig war: Ins Auge springt zunächst die historisierte Initiale B, die dem Incipit des ersten Psalms (Ps 1,1: Beatus vir qui non abiit in consilio) – die Großbuchstaben sind hier abwechselnd in roter und blauer Tinte geschrieben – voransteht. Der lateinische Text des ersten Psalms folgt in schwarzer Tinte mit Rubrizierungen nach.
Historisierte Initialen sind oft intermediale Verbindungen von Schrift und Bild. Im vorliegenden Fall nimmt die B-Initiale viel Raum des Folios ein. Der Binnenraum des oberen B-Bogens ist mit Blattgold verziert und zeigt in Deckmalfarben den Harfe spielenden, gekrönten König David, der in Herrscherposition über einer Stadt thront. Diese Art der Darstellung Davids als David rex et propheta-Typus ist in illustrierten mittelalterlichen Psaltern recht geläufig (vgl. etwa London, British Library, Ms. Harley 4804/1, fol. 4r). Als Herrscher über die Menschen (von Jerusalem) und Verfasser/Sänger der Psalmen ist David im Seckauer Codex somit nicht nur in der roten mhd. Beischrift (s.o.), sondern auch bildlich in der Initiale als „Autor“ ausgewiesen. Die B-Bögen der Initiale bilden jeweils drachenartige Wesen. Der Binnenraum des unteren B ist mit Tieren, Weinblättern und -trauben sowie floralen Elementen verziert. Auch an anderen Stellen des Codex finden sich kleinere Initialen, die ebenfalls zumindest farbig, aber nicht als historisierte Initialen gestaltet sind (z.B. fol. 21r, 34r). Die Arbeit mit den im Codex verwendeten Farben (es konnten bisher insgesamt über dreißig Farbmittel identifiziert werden, die in der Geschichte der Buchmalerei zum Einsatz kamen) beruht auf einer besonderen Technik, was bedeutet, dass die Illuminator:innen über ein ausführliches technologisches Wissen in diesem Bereich verfügten.
Neben der historisierten Initiale, dem lateinischen Psaltertext und der deutschsprachigen Beischrift finden sich auf fol. 1r am rechten seitlichen und unteren Blattrand zudem Neumenaufzeichnungen zu lat. Liedtexten. Bei diesen schriftlich nur angedeuteten und nicht ausgeführten „Liedern“ handelt es sich zum einen um die Antiphon (Wechsel- oder Gegengesang) Servite Domino (seitl. Blattrand), zum anderen um das Invitatorium Regem magnum adoremus Dominum (unterer Blattrand), die beide im liturgischen Gebrauch auf den ersten Psalm bezogen sind.* Die multimodale Kombination von Illustration, Psaltertext, den „Anweisungen“ und Neumen ermöglichen auf diese Weise – je nach Rezeption – eine nachgerade multisensorische Wahrnehmung des Psalters.
*Antiphon: Servite Domino (René-Jean Hesbert, Corpus antiphonalium Officii, Nr. 4875) / Invitatorium: Regem magnum adoremus (René-Jean Hesbert, Corpus antiphonalium Officii, Nr. 1134).
Literatur:
Anton Kern: Die Handschriften der Universitätsbibliothek Graz, Bd. 1, Leipzig 1942, S. 101f. [online]
Helmut Engelhart: Gebetsanweisungen in lateinischen Psalterhandschriften. In: Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 1129f. und ebd. Bd. 11 (2004), Sp. 501f.
Digitalisat der Handschrift: https://unipub.uni-graz.at/urn:nbn:at:at-ubg:2-26069
Ivana Drvoderic und Désirée Kometter, überarb. von J.Z., Projektarbeit im Rahmen des Seminars „VU Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann