Universitätsbibliothek Graz, Ms. 1565 (fol. 120v-121v)
124 Bl., davon 75 Pergament- und 48 Papierblätter, 150 x 116mm, Ende 14. Jh./15. Jh., Benediktinerabtei St. Lambrecht
Handschrift:
Die Handschrift Ms. 1565 enthält lateinische Predigten, Traktate und Miszellen, darunter lateinische grammatische Übungen und Dicta patrum sowie einen fünfstrophigen Sangspruch Heinrichs von Mügeln (aus dem sog. ‚Grünen Ton‘) und einen deutschen Cisiojanus. Zumindest der Pergamentteil der Handschrift dürfte noch aus dem 14. Jhd. stammen, die weiteren Niederschriften lassen sich auf das 15. Jhd. datieren. Als Provenienz der Handschrift gilt die Benediktinerabtei St. Lambrecht als gesichert, da sich am oberen Rand von fol. 14r ein Besitzeintrag zu Clemens Heuerraus aus Übelbach findet, der Prior in St. Lambrecht (1450-1470) gewesen ist.
Heinrichs von Mügeln fünf Strophen über die Temperamente (im Papierteil: fol. 120v-121v) sind aufgrund des paläographischen Befundes auf die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zu datieren.
Textbeispiel: Strophe 5
(fol. 121v) Seit wir an gestalt
daz gemüte, güte
dez menschen chenne[n]t, pald
lieb dem, hazz wir dem andern tragen.
Merich, du weiser lay,
wie gar frewndig pündig
sint durich liebew zway,
häzzig zway, dy ee sich nye gesahen.
gleich freut sich seins geleichen,
so sprichet der nature maister ler,
daz nyemant chan verstreichen:
zwo gleichew art, stet gunst, zu samme cheren.
(fol.120v) der magnet, sagen die weisen,
acht gold vnd silbers clain,
er habt sich zu dem eisen,
daz eisen zu dem stain.
Merich, seit nature hat
zwo gleiche art geseczt in einbue [lies: einbaer] wag[en].
Übersetzung
Weil wir an der Gestalt den Gemütszustand, die Güte des Menschen erkennen, haben wir rasch den einen gerne und hassen den anderen. Merke, du weiser Leie: So, wie zwei (Menschen) durch Zuneigung freundlich verbündet sind, so sind sich zwei, die sich niemals gesehen haben, abgeneigt. Gleiches erfreut sich an seinesgleichen, so besagt es die Naturlehre. Niemand kann dies übertünchen: zwei von gleicher Art kommen, wenn Gunst besteht, zusammen. Der Magnet, so behaupten die Gelehrten, ignoriert das Gold und das Silber, er zieht sich zum Eisen hin, das Eisen sich hin zu ihm. Merke, die Natur hat nämlich zwei von gleicher Art gleichgewichtig in die Waagschalen gesetzt.
Kommentar
Heinrich von Mügeln knüpft in seinen fünf Strophen an die aus der Antike stammende Lehre von den vier Temperamenten an. Diese Lehre bietet eine der ältesten uns überlieferten ‚Persönlichkeitsmodelle‘. Charakterisiert werden in den ersten vier Strophen die vier Typen der Temperamentenlehre – der Sanguiniker (Str. 1), der Choleriker (Str. 2), der Phlegmatiker (Str. 3) sowie der Melancholiker (Str. 4); zur Autorisierung der Aussagen erfolgen mehrmals Berufungen auf die (naturkundlichen) alten maister. Prominente antike Vertreter der Temperamentenlehre und Humoralpathologie waren u.a. Hippokrates von Kos und Galenos von Pergamon. Da die Humoralpathologie und das Konzept der Temperamentenlehre im Mittelalter weit verbreitet waren, dürfte der Inhalt der ersten vier Strophen bei den Rezipierenden zumindest inhaltlich in der Beschreibung der vier Temperamente nicht für allzu große Überraschung gesorgt haben. Interessant ist indes die fünfte Strophe, die wohl von gleicher Hand, aber mit hellerer Tinte im Anschluss an die vierte Strophe beginnt und aus Platzgründen auf dem leeren Raum von fol. 120v zu Ende geführt ist. Der Strophenschluss der Grazer Handschrift unterscheidet sich mit dem Bild des Magneten, der nur bestimmte, quasi ‚gleichgesinnte‘ Materialien anzieht, insofern deutlich von der übrigen Überlieferung dieses Sangspruchs, als dort eigentlich eine Anhörung durch die (Minne-)Dame erbeten wird (hierzu Stackmann und Brunner). Da dieser ‚ursprüngliche‘ Schluss für Insassen des Lambrechter Klosters wohl unpassend gewesen wäre, wurde hier offenbar geschickt umgedichtet. Trotz der Veränderung bleibt die Kernaussage der Strophe gleichwohl erhalten: Jeder möge sich, so Mügelns mittelalterlicher Tipp, einen Partner wählen, dessen Temperament mit dem eigenen übereinstimmt.
Literatur:
- Karl Stackmann (Hg.): Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21, Teilbd. 1: Einleitung, Text der Bücher I-IV (Deutsche Texte des Mittelalters 50), Berlin 1959, S. CXV-CXIX, Nr. 10 (Sigle o).
- Horst Brunner/Burghart Wachinger (Edd.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Bd. 4: Katalog der Texte, Älterer Teil: G – P. Berlin/New York 1988, S. 86.
- kein Digitalisa
Janina Merit Burkhard und Fiona Schalamun, überarbeitet von J.Z., Projektarbeit im Rahmen des Seminars „EX Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann