Handschrift
Die schmale, gerade 15 Blätter umfassende Handschrift im Oktavformat enthält die deutsche Bearbeitung eines lateinischen Breviers vom heiligen Ludwig von Toulouse: Hye hebt sich an dye hystori von sand Ludweyg (fol. 1r). Die vermittelte Legende ist kein reiner Prosatext, sondern ein Reimoffizium auf Grundlage von lateinischen Lektionen und liturgischen Gesängen. Die einzelnen Lektionen stellen sich als freie und teils stark gekürzte Übertragungen der auf die Heiligsprechung Ludwigs bezogenen päpstlichen Bulle vom 7. April 1317 dar, der auch einige der Mirakelerzählungen am Ende der Legende entstammen. Die dem Text vorangestellte Datierung 1309 dürfte deshalb wohl falsch sein. Auftraggeberin der Handschrift ist nach Ausweis des Textes Anna Goldegg, eine aus der Salzburger Ministerialenfamilie von Goldegg stammende Klarissin des Paradeisklosters zu Judenburg, die 1364 in den Bettelorden eingetreten war. Obwohl die Handschrift aufwendig angelegt ist, muss die Textgestalt der Grazer Ludwig-Legende im Blick auf ihre literarische und sprachliche Qualität als recht unbeholfen und fehlerhaft angesehen werden.
Die Grazer Handschrift zählt – anders als das Bullarium romanum – insgesamt 19 Wunder des Heiligen auf, von denen die letzten acht offenbar neu hinzugefügt sind und zum Teil einen deutlich österreichischen Bezug haben (erzählt wird u.a. von Wunderheilungen und -rettungen aus den Gegenden von Stein an der Donau, Villach, Wien und Judenburg).
Textauszug (Wunderberichte aus Judenburg)
(fol. 12r) Miraculum. Eyn closterfrav cze Judenburg sand (fol. 12v) Clarn orden genant Anna Goldekarin, dye da gegenwürtigs puechel in den eren des lyben sand Ludweygen von lateyn czu der deuchcz hat lassen machen, dye [was] vnweys also das sy sich nich[t]s verwest. Nu het sy eyn besundrev mvem genant Garalis Goldekarin, †vnd dye chranchait weracht sey von der vesper uncz des morge[n]s auf dye messczeit†. Nv versprach ir mvem an ir stat sand Ludweyg das er ir hulf sy scholt ym dy[n]en vncz an yren tod. Alczehancz cham sy czu ir selben vnd begraif ir vernunft.
Miraculum. Margaretha Goldekarin ir swester, dye het das schutund fyeber fvnf gancz iar. Do versprach sy dem hyligan Ludweyg alle iar eyn phunt wachs. Do wart sy der ledigt.
(fol. 13r) Miraculum. Eyn dyern der fraͤvn cze Judenwurk des closters spot sand Ludweygen vnd wolt nicht gelauben an yn haben. Do prach sy ab eyn füs. Do versprach sy sand Ludweygen czwe vnd dreyssig pater noster czwen vnd dreyssik tag. Do ward ir wider ir fues.
Übersetzung
„Ein Wunder: Eine Klosterfrau aus dem St. Klara-Orden zu Judenburg, genannt Anna Goldekarin, die dieses vorliegende Büchlein zu Ehren des lieben St. Ludwig von lateinischer in die deutsche Sprache hat übertragen lassen, die war so unsinnig, dass sie nicht bei Verstand war. Nun hatte sie eine vornehme Muhme [Mutterschwester], genannt Garalis Goldekarin, und [die bat den heiligen Ludwig?] von der Vesper bis zur morgendlichen Messe, die Krankheit zu verbannen. Da versprach die Muhme an ihrer Stelle dem heiligen Ludwig, wenn er Anna helfe, würde diese ihm dafür bis zum Ende ihres Lebens dienen. Sofort kam sie wieder zu sich und war wieder bei Verstand.
Ein Wunder: Margaretha Goldekarin, ihre Schwester, die hatte fünf Jahre lang das Schüttelfieber (?). Da versprach sie dem heiligen Ludwig alljährlich ein Pfund Wachs, da wurde sie der Krankheit ledig.
Ein Wunder: Eine Magd der Frauen des Klosters zu Judenburg spottete über den heiligen Ludwig und wollte nicht an ihn glauben. Da brach sie sich den Fuß. Da versprach sie dem heiligen Ludwig 32 Pater Noster an 32 Tagen und ihr Fuß wurde wieder gesund.“
Kommentar:
Was verbindet einen ‚mediterranen‘ Heiligen wie Ludwig von Toulouse mit dem Paradeiskloster im steiermärkischen Judenburg? Zentren des Heiligenkults um Ludwig von Toulouse waren im späten Mittelalter vor allem Italien, Südfrankreich und Spanien.
Ludwig von Toulouse aus dem Haus Anjou wurde 1274 als zweiter Sohn Karls II. von Neapel (Karl von Anjou) in der Nähe von Salerno geboren. Er wuchs im provenzalischen Brignoles auf. Sein Vater geriet 1284 in aragonesische Kriegsgefangenschaft, aber zugunsten des Vaters wurden Ludwig und zwei seiner Brüder 1288 als Geiseln nach Barcelona und Ciurana ausgetauscht. In der Abgeschiedenheit seiner Gefangenschaft kam Ludwig erstmals mit dem Franziskanerorden in Kontakt, für den er sich begeisterte. 1290 gelobte er, dem Orden der Minderen Brüder des Heiligen Franz von Assisi beizutreten. Nach seiner Freilassung 1295 wurde Ludwig Bruder des Franziskanerordens und verzichtete 1296 auf sein Geburtsrecht und das Angebot, das Amt des Bischofs von Lyon auszuüben. Zum Bischof von Toulouse wurde er gleichwohl noch im selben Jahr geweiht. Als Bischof war es sein Ziel, den Frieden in Katalonien zu fördern. Auf dem Weg nach Rom starb der 23-jährige Ludwig 1297 in Brignoles, sein Leichnam wurde in der Franziskanerkirche von Marseille bestattet. Bereits kurz nach dem Tod des Sohnes strebte Karl II. die Heiligsprechung Ludwigs an, um vermutlich dem Haus Anjou mit einem Heiligen höheres Ansehen zu verleihen. 1317 erfolgte tatsächlich die Kanonisierung und es entwickelte sich europaweit eine Kultverehrung, die durch den Franziskanerorden unterstützt wurde. Ludwig wurde so Ordensheiliger der Franziskaner und Klarissen. In diesem Zusammenhang entstand auch die Legende vom heiligen Ludwig, von der sich eine Version in Grazer Handschrift Ms. 1620 findet. Seinen Weg in die Steiermark fand Ludwig folglich über seine Verehrung bei den Franziskanern und Klarissen. Und wenn der heilige Ludwig so wunderwirksam Kranke heilen, Notleidende retten und selbst Tote zum Leben erwecken kann, erwartet wohl auch niemand literarische Höchstformen in seinem legendarischen Lebenslauf.
Literatur
- Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. 2. Halbbd.: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358-1439). (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2,2) Graz 2004, S. 384-387.
- Digitalisat der Handschrift: https://unipub.uni-graz.at/urn/urn:nbn:at:at-ubg:2-29980
Markus Klug und Stephanie Streicher, überarb. von J.Z., Projektarbeit im Rahmen des Seminars „VU Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann