Pergament, 148 Bl., 250 x 160mm, 12. Jhd., aus dem Chorherrenstift Seckau
Handschrift:
Die Handschrift enthält ein lateinisches Rituale (liturgisches Buch mit Ordnungen und Texten für den klösterlichen Gebrauch), darin enthalten sind auch typische Formeln für Exorzismen, Segnungen, Beschwörungen, die Spendung der Sakramente etc. Das Blatt 147 war ursprünglich mit der verso-Seite auf dem hinteren Buchdeckel als Makulatur zur Verstärkung des Einbands aufgeklebt. Es ist durch die Ablösung und Behandlung mit Reagenzien stark beschädigt und deshalb nahezu unlesbar. Der deutschsprachige Text des ‚Seckauer Hagelsegens‘ (auch: ‚Grazer Hagelsegen‘) steht in neun Zeilen zwischen zwei lateinischen Einträgen verschiedener Schreiberhände. Der ‚Seckauer Hagelsegen‘ dürfte aus dem 12. Jahrhundert stammen und ist damit der älteste Hagelsegen in deutscher Sprache.
Text (rekonstruiert nach Schönbach/Wilhelm)
(fol. 148v) † lvie riffe. lvie riffe. lvie riffe. hin vil michel. hin vil michel. hin vil michel. Von wannen gent swarzev wolchen. daz ist [der] heilige christ. mit siner gecirde. daz ist der heilige christ mit siner menege. Der scheide[t] trvbev wolchen. Der wil veimen wize steine. daz [s]e zegen. e si cerde gen. vor den selben wihen worten. daz uns ce luppe. Pater. Pater. Pater. Gehugest du nv hagel. wa dich die wartman. in dem wolchen sahen. uf hart du læge. engelen dv iæge. daz du me [ne ?] getar. ie sva man dich nant. Mm. pater.
lvie riffe ist ungeklärt; lvie: vielleicht von viehen (st.Vb) – blasen (?) oder verschriebenes vliehen – fliehen, sich flüchten, hier: verschwinden (?); riffe: rîfe, rîffe – (gefrorener) Tau, Raureif; veimen – wie Schaum wegnehmen, zerstäuben; wîze steine – Hagelkörner; luppe – Zauber, Zauberei; harte – gefrorener Schnee, Fels/Gebirge; Mm. – (sehr unsicher) vielleicht für: mutatis mutandis oder Maria mater oder für eine Anzahl (3 x 3) zu sprechender Pater Noster??
[gewagter] Übersetzungsvorschlag
Verschwinde Reif, verschwinde Reif, verschwinde Reif! Weit fort, weit fort, weit fort! Von wo ziehen schwarze Wolken? Das bewirkt der heilige Christus in all seiner Pracht, das bewirkt der heilige Christus mit seiner Schar, der zerteilt trübe Wolken. Der wird die Hagelkörner zerstäuben, so dass sie zergehen, ehe sie zur Erde gehen, mit diesen geweihten Worten. Das sei unser Zauberspruch: „Pater, Pater, Pater. Erinnerst du dich nun, Hagel, wie dich die Späher in den Wolken entdeckten? Auf dem Eis lauertest du, die Engel [weiße Wolken?] jagtest du. Untersteh dich, wo auch immer man dich nannte. Mm. Pater.“
Kommentar
Zur Auffindung des Hagelsegens und seiner Behandlung mit Chemikalien schreibt Anton Schönbach, der Begründer der Grazer Germanistik, im Jahr 1875: „Bei ablösung des letzten blattes zeigten sich auf der rückseite nur undeutliche spuren von buchstaben und erst nach widerholter anwendung von schwefelammonium und mit freundlicher unterstützung des hrn archivars Joseph Zahn gelang es den […] merkwürdigen, leider sehr verderbten hagelsegen herauszubringen“ (S. 79). Durch die Behandlung mit dem Ammoniumsalz verschlechterte sich freilich der Zustand des Blattes und in seiner jetzigen Kondition kann man (auch mit moderner Technologie) kaum mehr als einzelne Buchstaben und Wörter erkennen.
Der Inhalt des Hagelsegens lässt nicht zuletzt deshalb einigen Spielraum für verschiedene Deutungen oder Interpretationen. Den Beginn bilden, nach einer vorangestellten Crux, zwei dreimal wiederholte Anrufungen. Die erste Anrufung lvie riffe ist in ihrer Bedeutung nach wie vor ungeklärt, es könnte sich vielleicht um eine Anrufung im Sinne der Ephesiae litterae (unverständliches Kauderwelsch wie z.B. das Wort „Abrakadabra“) handeln, rein sprachökonomisch ist lvie aber im Grunde unaussprechlich (Schönbach las den ersten Buchstaben als großes -i-, es dürfte aber wohl ein kleines -l- sein). In Verbindung mit dem dreimaligen hin vil michel sind der stete Vokalklang des intervokalischen -i- sowie der Rhythmus/das Metrum im Gleichklang auffallend. Die Dreizahl ist ebenso wie die Rhythmik in der Tektonik antiker und mittelalterlicher Zaubersprüche charakteristisch. Den Anrufungen folgt im Hagelsegen die sog. historiola (kleine Erzählung“) vom wolkenvertreibenden und hagelzerstäubenden Christus. Den Schluss bildet die incantatio (Beschwörungsformel/Zauberspruch), die durch die Ankündigung uns ce luppe eingeleitet ist und mit der christlichen Anrufung pater beginnt und endet. Kurzum: In dieser eigentümlichen Vermischung archaisch-magisch anmutender Beschwörung mit christlichen Elementen wird die incantatio in die Praxis christlicher Gebetspraxis umformuliert. Auch der Form nach weist der Hagelsegen „neue“ und „alte“ Elemente auf: Einerseits den (unreinen) Endreim (z.B. zegen - cerde gen), aber auch die Alliteration/den Stabreim: Gehugest du nv hagel. / wa dich die wartman. in dem wolchen sahen. Neben der Rhythmisierung ist nicht zuletzt auch die Klanglichkeit des Wechsels von hellen und dunklen Vokalen im Hagelsegen auffallend.
Literatur:
- Anton Schönbach: Segen aus Grazer Hss., in: ZfdA 18 (1875), S. 78-81 (mit Abdruck). [online]
- Ernst Hellgardt: Seckauer Handschriften als Träger frühmittelhochdeutscher Texte, in: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des Internationalen Symposions Schloß Seggau bei Leibnitz 1984, hg. von Alfred Ebenbauer, Fritz Peter Knapp und Anton Schwob (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A, Kongreßberichte 23), Bern u.a. 1988, S. 103-130, bes. S. 112f.
- Digitalisat der Handschriftenseite: https://unipub.uni-graz.at/obvugrscript/content/pageview/4828054
Projektarbeit im Rahmen des Seminars „VU Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann