Universitätsbibliothek Graz, Ms. 1540 (fol. 165v-166r)
Pergament, 170 Bl., 160 x 110mm, Anfang des 13. Jahrhunderts; ab fol. 140v um 1300, Zisterzienserstift Neuberg
Handschrift:
Bei dem Codex handelt es sich um eine theologisch-lateinische Sammelhandschrift (u.a. Honorius Augustodunensis, Bernhard von Clairvaux, Predigten). Eine Besonderheit stellen die Marginalien (Randnotizen) auf fol. 165v-166r mit medizinischen Rezepten dar, die der Handschrift wohl zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt wurden und die teilweise in lateinischer, teilweise in deutscher Sprache verfasst sind. Neben Rezepten gegen Mundgeruch, Kopfschmerzen oder Blutfluss überwiegen medizinische Tipps rund um Frauenleiden. Die Handschrift wurde bei der Bindung zugeschnitten, so dass die Marginalien nur fragmentarisch erhalten bzw. lesbar sind.
Textproben (rekonstruiert nach Schönbach):
1. Rezept zur Brustvergrößerung (?)
(fol. 166r) […] daz den vrouwen die brust groz werdent […] eines hasen […]gen und viuhte die bruste […] sie werdent grozer […].
„Damit den Frauen die Brüste groß werden […] eines Hasen […] und befeuchte die Brüste […] sie werden größer […].“
2. Schwangerschaftsrezept
(fol. 166r) Mulier si vult impregnari desiccet testiculos viri […] et faciat inde pulverem et bibat cum vino post proflusionem menstruum, dum inde concumbat cum viro et concipiet.
„Wenn eine Frau schwanger werden will, muss sie die Hoden eines Mannes trocknen […] und muss sie zu Pulver zermahlen und muss dieses mit Wein trinken, nach dem Fluss der Menstruation, während sie mit dem Mann schläft und sie wird schwanger werden.“
Kommentar
Die Inhaltsstoffe, die in den Rezepten vorgeschlagen werden, erscheinen aus heutiger Sicht zweifellos eigenartig, ihre Auswahl kommt aber nicht von ungefähr: In der mittelalterlichen Medizin wurde oft davon ausgegangen, dass das Aussehen von Dingen Auskunft darüber gibt, wofür sie nützlich sein können, oder dass sich die Funktion eines tierischen Körperteiles auf den medizinischen Nutzen dieses Körperteils beim Menschen übertragen lässt. Diese Grundidee des Similia similibus curentur („Ähnliches kann durch Ähnliches geheilt werden“) kennen wir heutzutage nur noch aus der Homöopathie. Im Mittelalter wurden deshalb beispielsweise Krankheiten von Frauen bevorzugt mit aus weiblichen Tieren hergestellter Medizin behandelt. Die Gebärmutter von Häsinnen wurde etwa genutzt, wenn der Wunsch einer Schwangerschaft bestand. Dies könnte auch der Grund sein, warum Hasen im Rezept der Ms. 1540 zur Brustvergrößerung dienen sollen. Das Körperteil, das hier vom Hasen benötigt wird, ist zwar nicht überliefert, aber da sowohl Hasen als auch weibliche Brüste Symbole der Fruchtbarkeit sind, liegt die Auswahl der Zutat nahe. Erstaunlich ist allerdings schon die Existenz des Rezepts zur Brustvergrößerung an sich, denn in anderen Handschriften sind Rezepte zum Erreichen des Gegenteils – zur Brustverkleinerung – überliefert. Grund dafür könnte das Schönheitsideal der damaligen Zeit sein. Folgendes Beispiel zeigt ein solches Rezept: Man sol nemen Cicuta safft vnd damit sol dy Junckhfraw stätiklichen salben ire prüstl wenn sy zum ersten wachsen werdenn so beleibent ir die prüstl hert vnd vesst vnd klain („Man soll den Saft von geflecktem Schierling nehmen und damit soll die Jungfrau ihre Brüste oft einreiben, wenn sie zu wachsen beginnen, dann bleiben sie fest und klein“).
Die Schwangerschaft ist zentrales Thema der Frauenheilkunde; jedes Stadium der Schwangerschaft wird in vielfältiger Weise von zahlreichen Rezepten begleitet. Diese geben u.a. Tipps, wie man sich während der Schwangerschaft verhalten soll, oder sie bieten Ratschläge gegen Schmerzen. Selbstverständlich gibt es auch Hilfestellungen beim Kinderwunsch: Während andere zeitgenössische Texte die Einnahme von Dachshoden zur Steigerung der männlichen Potenz empfehlen, sollen Frauen nach dem Kinderwunsch-Rezept der Ms. 1540 die getrockneten „Hoden“ (gemeint ist wohl das Sperma, sonst dürfte es schwierig werden mit der Schwangerschaft) eines Mannes in Wein konsumieren. Auch hier wird also ein ohnehin dem Thema nahestehender „Wirkstoff“ – in doppelter, oraler und vaginaler, Einnahme – als geeignete Zutat der Behandlung genutzt.
Fast alle Rezepte zur Frauenheilkunde benennen nicht nur die benötigten Ingredienzien der Medizin, sondern liefern auch konkrete Handlungsanweisungen. Die häufigste Art, Heilmittel zu sich zu nehmen, war das Trinken von Substanzen zu bestimmten Zeiten oder im Verlauf spezifischer Handlungen. Neben Pflanzen, die als Basis von Rezepten dienten, war auch das Mischen tierischer Produkte mit Wasser, Essig oder Wein typisch. So dürfte obiges Rezept also keinesfalls eine Seltenheit sein. Zur Nachahmung ist es eher nicht empfohlen.
Literatur:
- Kruse, Britta-Juliane: „Die Arznei ist Goldes wert“: Mittelalterliche Frauenrezepte, Berlin/Boston 1999.
- Schönbach, Anton: Rezension zu: Wilhelm Wackernagel (Hg.): Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 7 (1876), S. 469.
- Digitalisat der Handschrift: https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ubg:2-30284/fragment/page=6698856
Bettina Bolliger und Hanna Schirnhofer, Projektarbeit im Rahmen der Lehrveranstaltung „EX Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann