Universitätsbibliothek Graz, Ms. 1645 (fol. 85v)
Pergament, 169 Bl., 140 x 100mm, 1. Hälfte 13. Jh., Augustinerstift Seckau
Handschrift
Bei der Handschrift 1645 handelt es sich um ein lateinisches Gebetsbuch aus dem steirischen Chorherrenstift Seckau (liber precationum monialium Seccoviensium). Neben theologischen Inhalten in lateinischer Sprache enthält der Codex auch mittelhochdeutsche Rubriken, darunter einen Schreiberspruch auf Bl. 85v. Möglicherweise wurde die Handschrift von Konrad von Stubenberg, dem um 1240 verstorbenen Probst von Seckau, geschrieben.
Text (fol. 85v)
vmbe den scriber sprich ditzze,
daz er erloset werde von der hitzze.
Übersetzung
„Sprich dies um des Schreibers Willen:
dass er von der Hitze erlöst werde!“
Kommentar:
Gebetsbücher wurden in mittelalterlicher Zeit zur privaten Andacht oder für öffentliche Gottesdienste benutzt, sie galten aber auch – je nach Ausstattung – als Statussymbol. Kommentare von Schreibern in mittelalterlichen Handschriften sind indes selten.
Umso aufschlussreicher sind die wenigen überlieferten Schreibersprüche. Als Schreibereinträge gelten gemeinhin sekundäre, nicht auf den Haupttext bezogene Einträge (häufig als Kolophone am Ende des Manuskripts, zuweilen nur Federproben). Es sind Kurztexte, in denen die Schreiber zu Wort kommen und sich mitunter zu ihren Befindlichkeiten äußern, indem sie etwa über die Schwere der Arbeit, über widrige Arbeitsbedingungen im Scriptorium oder gar körperliche Beschwerden klagen (Kälte, zu wenig Licht, Rückenschmerzen, Hunger, zittrige Hände, schlechte Augen, Sprachbarrieren etc.). Beispiele hierzu sind etwa:
- ‚St. Galler Schreibervers‘ (9. Jhd.): Chumo kiscreib filo chumor kipeit („Mit Mühe habe ich geschrieben, mit viel mehr Mühe (bis zum Ende) ausgeharrt“)
- Wien, ÖNB 2860* (1415): Tres digiti scribunt totum corpusque laborat („Drei Finger schreiben, aber der ganze Körper arbeitet“)
- Wien, ÖNB 2709 (14. Jhd.): O scriptor cessa, quia manus est tibi fessa („Oh, Schreiber, höre auf, denn deine Hand ist müde“)
- München, Cgm 352 (15. Jhd.): Ich hiet es geren pesser geschriben da was es als fremde teütsch das ich sein ye nicht verstuend („Ich hätte es gerne besser geschrieben, aber es war in fremdem Deutsch, das ich nicht verstand“)
In anderen Sprüchen ist zudem die bewusste, wortspielerische Verwendung der lateinischen Begriffe pena (dt. „Qual“) und penna (dt. „Feder“) geläufig (hierzu u.a. Seidel). Beim Versuch des Übersetzens ist dabei häufig nicht klar, welches Wort tatsächlich gemeint ist. Es dürfte sich um eine beabsichtigte Unschärfe handeln, bei der zum Ausdruck gebracht ist, dass das Schreiben mit der Feder eine Qual sein kann. Neben den Beschwerden über schwierige Schreibumstände gibt es auch Forderungen und Wünsche: Lohnbitten oder die Bitte um ewige Seligkeit und himmlischen Lohn als Bezahlung für die Tätigkeit des Schreibens. Auch Kommentare zur Zeitgeschichte lassen sich mitunter finden.
Im Fall der Ms. 1645 handelt es sich um eine rubrizierte und sorgfältig platzierte Einfügung inmitten des Werks. Dadurch scheint die auktoriale Tätigkeit mit der Persönlichkeit des Schreibers zu verschwimmen. Solch eine individuelle Einfügung zeugt von einer durchaus selbstbewussten Haltung. Es wird vermutet, dass klösterliche Schreibende ihre Arbeit regelmäßig zum Beten unterbrechen mussten. Nach einer solchen Gebetspause könnte der hier vorliegende Schreiberspruch entstanden sein, in dem der Schreibende um Erlösung von der Hitze bittet, denn das (Ab-)Schreiben war (und ist) eine anstrengende, monotone und oft hohe Konzentration erfordernde Arbeit. Ungewöhnlich bleibt die Klage gleichwohl, denn in mittelalterlichen Schreibstuben dürften „Hitzewellen“ eher seltene Ausnahmen gewesen sein; häufiger sind hier Klagen über zu große Kälte auszumachen.
Dass aber Hitze jegliche Tätigkeit des Schreibens unerträglich machen kann, weiß man auch heutzutage. Knapp 800 Jahre nach unserem Schreiber aus Seckau verkündet u.a. etwa der Leadsänger der Punkrock-Band „Die Ärzte“: „Hab’ gerade keine Meinung zu dem ganzen Sch…, es ist, es ist, es ist viel zu heiß!“ (Farin Urlaub, „Zu heiß“, 2010).
Literatur in Auswahl
- Seidel, Kurt Otto: Tres digiti scribunt totum corpusque laborat. Kolophone als Quelle für das Selbstverständnis mittelalterlicher Schreiber. In: Das Mittelalter, Vol. 7, No. 2, 2002, pp. 145–156.
- Wolf, Jürgen: Psalter und Gebetbuch am Hof: Bindeglied zwischen klerikal-literater und laikal-mündlicher Welt. In: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D.H. Green. S. 139–179.
Digitalisat der Handschrift: https://unipub.uni-graz.at/urn/urn:nbn:at:at-ubg:2-29893
Judith Hansen und Nina Schneider, überarb. von J.Z., Projektarbeit im Rahmen des Seminars „EX Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik (Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann)