Universitätsbibliothek Graz, Ms. 1228 (fol. 81v)
Papier, 81 Bl., 210 x 130mm, 2. Hälfte 14. Jhd., Provenienz unbestimmt
Handschrift
Lateinische Sammelhandschrift mit theologischen und juristischen Texten (u.a. etwa Boethius' De disciplina scolarium oder Adamus’ Teutonicus Summula cum glossis interlinearibus), darunter auch einige deutschsprachige Texte: Gebete, ein Waffensegen, ein Text zur Traumdeutung (siehe Objekt des Monats Februar 2023) sowie der hier im Zentrum stehende und recht breit überlieferte Longinus- bzw. Drei-Gute-Brüder-Segen auf dem letzten Blatt der Handschrift als Nachtrag.
Text
(fol. 81v) Daz ist ain gut wuntsegen: Drey guͤt pruͤder giengen, einen sæligen weg si geviengen. si giengen in churczer frist. in wider fuor vnser herr vater Jesus Christ. er sprach: ‚wa werlt ir hin, ier guͤten pruͤder all drei?‘ ‚her vater Jesus Christ, wir suͤchen ein chraut daz zu der wunden guot sei. di wunden sein geslagen oder gestochen, gewarfen oder geschossen oder geprochen, wie der wunden geschehen sei, da daz chraut guͤt zuͤ sei.‘ er sprach: ‚chniet nider auf ewer chnie vnd swert mir pei dem pluͤd vnsers hern vnd pei der milch vnser fraun, daz ir disen sang vor iemanen helt noch von niemant chain miet dar vmb nemt. vnd get auf den perch Oliveti vnd nemt oell des pawms vnd wol der schaff vnd streicht daz in diu wunden drin vnd dar auf so hailld di wunt von grunt auf. vnd sprecht, daz dieser wunden geschech alz der wunden geschech [lies: geschach] di Longinus der plint jud vnserm hern Jesu Christo durich sein rechten seiten stach: di hal noch swal noch swuer noch slueg inchain uͤbel dar zuo. also muoz dierre wunten ergan alz ich hie gesaget han in gotes nam. amen.
Übersetzung
Das ist ein guter Wundsegen. Drei gute Brüder gingen und schlugen einen seligen Weg ein. Sie gingen in kurzer Frist. Ihnen begegnete unser Vater Jesus Christus. Er sprach: „Wo wollt ihr hin, ihr guten Brüder alle drei?“ „Herr Vater Jesus Christus, wir suchen ein Kraut, das gegen Wunden gut helfen soll. Seien die Wunden geschlagen oder gestochen, geworfen oder geschossen oder gebrochen, wie auch immer die Wunde geschehen sei, das Kraut soll gut dagegen sein.“ Er sprach: „Kniet nieder auf eure Knie und schwört mir bei dem Blut unseres Herrn und bei der Milch unserer Frau, dass ihr diesen (nachfolgenden) Spruch vor niemandem verheimlicht und von niemandem Lohn dafür nehmt und geht auf den Ölberg und nehmt Öl des Baumes und Wolle der Schafe und streicht das in die Wunde und darauf wird die Wunde von Grund auf heilen. Und sprecht, dass dieser Wunde geschehen möge, wie der Wunde geschah, die der blinde Jude Longinus unserem Herrn Jesus Christus durch seine rechte Seite stach. Weder nässte sie noch schwoll oder schwärte die Wunde, noch verursachte sie anderes Übel. Ebenso soll es dieser Wunde ergehen, wie ich hier in Gottes Namen gesagt habe. Amen.“
Kommentar
Wund- und Blutbeschwörungen zählen zur umfangreichsten Gruppe der mittelhochdeutschen Beschwörungen. Der Wundsegen der drei Brüder bzw. Longinussegen ist in 24 verschiedenen Handschriften (aus der Zeit um 1200 bis ins 17. Jahrhundert) überliefert und unterscheidet sich durch verschiedene erzählende, beschwörende und segnende Elemente. Die Grazer Version in der Ms. 1228 bietet eine der älteren, dreiteiligen Versionen, nämlich 1. Die Erzählung (die sog. historiola) von den drei guten Brüdern: Auf der Suche nach einem wirkmächtigen Kraut, das verschiedene Arten von Wunden heilen kann, treffen drei Brüder auf Christus. Dieser ist bereit, ihnen zu helfen und ihnen ein Mittel zu verraten, das jede Wunde heilen kann. Er verlangt, dass die Brüder ihm beim Blut Christi und der Milch Mariens schwören, dieses Heilswissen nicht geheim zu halten, aber auch kein Geld für etwaige Wundbehandlungen zu verlangen. Bei der Muttermilch Mariens zu schwören, gilt in diesem Kontext als besondere Form von Eid und kann als Symbol für die Liebe und für das Kümmern um Menschen stehen. Im Weiteren verrät Christus den Brüdern das Allheilmittel für jede Wunde: Die Kombination von Öl des Ölbergs mit Schafswolle soll wahre Wunder wirken. 2. Die Beschwörungsformel (die sog. incantatio, im Text als mhd. sang ausgewiesen) mit Longinusmotivik: In die – nur in indirekter Rede Christi erfolgende – Beschwörung ist ein Textelement integriert, durch den ein Bezug zur Heilssituation um Longinus als dem Urheber der Seitenwunde Jesu hergestellt wird. Der zu behandelnden Wunde möge es ergehen wie der Seitenwunde Christi. 3. Schließlich folgt die weitverbreitete Formel vom Nichtschwären der Wunde: Wie die ‚reine‘ Seitenwunde Christi – so verlautbaren die verschiedenen Textzeugen recht einhellig – so möge auch diese Wunde nicht bluten, anschwellen, eitern, sich heiß entzünden o.ä. Da nahezu alle deutschen und lateinischen Fassungen der Formel zuallererst vom Nicht- oder Wenig-Bluten der Wunde Christi sprechen, haben wir dies in unserer Übersetzung anstelle des etwas rätselhaften di hal der Grazer Version als ‚nässen‘ ergänzt. Beachtenswert ist im Grazer Drei-Brüder-Segen nicht zuletzt die Form, die durch Rhythmik, Alliteration, Vokalklang und Reimprosa (im ersten Teil) besticht.
Literatur:
- Anton Schönbach: Segen aus Grazer Hss. In: ZfdA 18 (1875), S. 78-81 [online].
- Monika Schulz: Artikel ‚Blut- und Wundsegen‘. In: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, 2. Aufl., Bd. 11 (2004), Sp. 1683-1687.
Agnes Hobiger und Rhoda Korsatko, Projektarbeit im Rahmen des Seminars „EX Historische Medien (Mittelalterliche Handschriften)“, Institut für Germanistik, Germanistische Mediävistik, Univ.-Prof. Dr. Julia Zimmermann