Mit dem Terminus „Ruine“ wird im Allgemeinen eigentlich ein Bauwerk im Zustand seines Verfalls bezeichnet. Daher mag es zunächst auch befremdlich anmuten, wenn dieser Ausdruck im Zusammenhang mit der Beschreibung einer Pergamenthandschrift aus dem 12. Jahrhundert genannt wird. Doch ähnlich einer Ruine, deren Gestalt durch natürliche oder gewaltsame Einwirkungen entsteht, weist auch die Handschrift MS 444, ein Messbuch aus dem ehemaligen Seckauer Bestand, verschiedene Spuren von Eingriffen auf, denen sie im Verlauf ihrer Herstellung und Nutzung ausgesetzt war. Denn von dem ehemaligen Prachtband sind nur noch wenige Teile im Original erhalten.
Aufgrund des Buchschmucks und seiner liturgischen Ordnung wird vermutet, dass das Missale in einem Skriptorium des Salzburger Domstiftes gefertigt und zusammen mit anderen Handschriften als Gründungsausstattung des Chorherrenstiftes nach Seckau gebracht wurde. Obwohl an seiner Herstellung mehrere Schreiberhände beteiligt waren, ist es durchaus möglich, dass die Handschrift zusammen mit ihrem Hauptverfasser, dem Mönch Bernhard, einem Salzburger Kustos und Urkundenschreiber, nach Seckau gekommen ist, wo dieser als Skriptor weitergewirkt hat.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Handschrift schon in ihrer Entstehungszeit nicht vollständig ausgeführt wurde, denn das Kernstück der Messe, der Canon Missae, welcher die Wandlung und den Abendmahlbericht mit den einleitenden und abschließenden Gebeten enthält, fehlt und wurde bereits in der Gotik ergänzt. Ein weiterer wichtiger Teil des Messbuches, das Kalendarium, ist hingegen bis heute verloren und damit auch ein wesentliches Provenienzmerkmal. Es gibt bis dato auch keine eindeutige Erklärung dafür, warum auf zahlreichen Blättern der Handschrift (72 – 83) der romanische Text mit Rasuren entfernt und in der Gotik nur teilweise mit Nachträgen überschrieben wurde. Die radierten Schriftzeichen der ursprünglichen Fassung können heute partiell sogar noch entziffert werden.
Mit welch großer Sorgfalt jedoch die Handschrift im 12. Jahrhundert konzipiert und hergestellt worden war, zeigt sich nicht nur an der beachtlichen kalligraphischen Stilisierung des Textes, sondern auch an der qualitativ hochwertigen Umsetzung der Initialen. Üblich für den Entstehungsort Salzburg ist dabei die Kolorierung mit grüner und blauer Farbe. Darüber hinaus wurde auch Gold- und Silbertinte als Gestaltungsmittel eingesetzt, die heute jedoch stark korrodiert ist. Eine Besonderheit in diesem Zusammenhang stellt ein sehr sorgfältig an das Pergamentblatt (133 v) genähtes, violettes Stück Seidentuch dar, das die Abbildung eines heiligen Priesters schützen sollte.
Im Widerspruch dazu wurden andere Initialen aus der Handschrift herausgeschnitten (84 v). Diese Spoliierungen fanden offensichtlich erst im oder nach dem 15. Jahrhundert statt, denn der gewaltsame Eingriff zerstörte auch jenen auf der Rückseite des Blattes (84 r) in der Gotik verfassten Text.
Trotz ihrer physischen und inhaltlichen Unvollständigkeit ist dieses Missale dennoch ein beeindruckendes Werk, das im ehemaligen Bestand von Seckau hinsichtlich seiner Hochwertigkeit kein Gegenstück hat und wie so manche Ruine nach wie vor viele Fragen um seine Entstehung und sein Schicksal aufwirft.
Denise Anna Trieb, Abschlussarbeit im Rahmen des
Wahlfaches 2.3 Buch- und Bibliotheksgeschichte (ULG Library and Information Studies)