Vom Mittelalter bis ins Barock wurden mittelalterliche Pergamenthandschriften, für die man in den Bibliotheken keine Verwendung mehr hatte, zerlegt und in der Buchbinderei wiederverwendet. Als Pergamentmakulatur wurden ihre Blätter in Büchereinbände hineinverarbeitet, wo sie wichtige Stütz- und Schutzfunktionen übernahmen. Häufig findet man sie als „Spiegelblätter“ auf die Innenseite der Einbanddeckel geklebt. Immer wieder sieht man Spiegel, die abgelöst wurden, um an den verborgenen Text der verklebten Seite heranzukommen. Dabei verblieben oft Teile des Textes spiegelbildlich auf dem Holzdeckel. Diese Textabklatsche sind eine Folge davon, dass die Tinte am Klebstoff stärker haften blieb als am Schriftträger.
Ein solcher Textabklatsch befindet sich auch auf der Innenseite des Vorderdeckels der Grazer Handschrift MS 68. Da der Text im Zuge der Ablösung größtenteils vom Pergamentblatt auf den Holzdeckel übergegangen war, kam seinem Spiegelbild bei der Bearbeitung der Handschrift eine besonders wichtige Rolle zu. Und schon im Zuge der ersten Betrachtung fiel auf, dass es sich dabei um keinen „normalen Text“ handeln konnte, vielmehr erschienen rätselhaft anmutende Zeichen in tabellarischer Anordnung.
Zur Lösung des Rätsels trug die Herstellung eines leserichtigen Bildes durch die Abteilung für Digitalisierung bei. So entpuppten sich die ersten beiden Tabellenspalten als altgriechisches Alphabet in Groß- und Kleinbuchstaben, die dritte bezeichnete die Buchstabennamen in lateinischer Schrift. Jedoch legt das Vorhandensein zusätzlicher Zeichen (epismon, sincope) nahe, dass es sich dabei nicht nur um eine Buchstabenreihe sondern vielmehr um eine Darstellung der griechischen Zahlenschrift handelt. Gestützt wird dies durch die vierte Tabellenspalte, in der die mit den griechischen Zahlzeichen korrespondierenden römischen Zahlen von i (1) – dcccc (900) abgebildet sind.
Da die Lesbarkeit der letzten beiden Tabellenreihen durch Leimspuren und die aufgeklebten, aufgefächerten Bundenden sehr stark beeinträchtig war, fertigte die Abteilung für Restaurierung für ihre Entzifferung eine UV-Fluoreszenzaufnahme an. Die dadurch erzielte Kontraststeigerung ließ eine doppelte, weil in lateinischen und griechischen Buchstaben ausgeführte Auflistung der griechischen Zahlwörter von 1 bis 10.000 zum Vorschein kommen.
Am Ende gelang auch die Identifikation der Zeichen in der fünften Tabellenspalte, die von den Buchstaben des lateinischen Alphabets flankiert werden. Bei ihnen handelt es sich um Markomannische Runen [1]. Diese eher seltene Runenvariante war bei den Donausueben im Gebrauch und hat im Gegensatz zu den nordischen und angelsächsischen Runen die exakte Reihenfolge des lateinischen Alphabets. Vollständige Abecedarien der Markomannischen Runen sind nur in einigen wenigen Handschriften des süddeutschen Sprachraums überliefert – zwei davon liegen in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Mag.a Michaela Scheibl
[1] Vgl. Buch der Schrift. Enthaltend die Schriftzeichen und Alphabete aller Zeiten und aller Völker des Erdkreises. Zusammengestellt und erläutert von Carl Faulmann. Frankfurt a. M. 1990, S. 163.