Marginalien, also Notizen, die sich auf Handschriften am Rand außerhalb des eigentlichen Textes befinden, liefern oft überraschende Erkenntnisse und widerlegen damit den übertragenen, oft abwertenden Gebrauch des Begriffs im Sinne von „minder interessant“:
Auf der letzten Seite von Ms 242, einer theologischen Sammelhandschrift aus dem 12. Jahrhundert, finden sich neben diversen Schrift- und Federproben drei zusammengehörige Zeilen.
Anglorum regi scribit schola tota Salerni (Zeile 1)
An den König der Angeln schreibt die ganze Schule Salerno
Mit diesen Worten beginnt das Regimen sanitatis Salernitanum, ein vermutlich im 12. Jahrhundert als Lehrgedicht verfasster Gesundheitsratgeber, der in der Tradition der berühmten medizinischen Schule von Salerno steht. Geboten werden Diätempfehlungen, Heil- und Hausmittel sowie hygienische Tipps, mnemotechnisch günstig in gereimten Hexametern verfasst. Eine Mischung, die bereits damals sehr erfolgreich war: das Regimen Sanitatis gilt als eines der meistgelesenen und -verbreiteten Werke der Weltliteratur.
Bereits im ausgehenden ersten Jahrtausend hatte sich die Schule in Salerno zum ersten medizinischen Zentrum auf europäischem Boden entwickelt. Laut Überlieferung von einem Christen, einem Juden und einem Moslem gegründet, verband der Forschungs- und Lehrbetrieb (an dem ganz selbstverständlich auch Frauen teilnahmen) antike Kenntnisse mit arabischem Wissen und genoss im gesamten Abendland höchstes Ansehen.
Zahlreiche Prominente der damaligen Zeit ließen sich dort behandeln; darunter der als „König“ bezeichnete Adressat der Schrift - gemeint ist wahrscheinlich Robert, Sohn Wilhelms des Eroberers, der auf der Rückkehr vom ersten Kreuzzug in Salerno medizinischen Rat eingeholt haben soll.
Der Schreiber unserer Handschrift Ms 242 nun war von einer Berufskrankheit geplagt. Er hat im Regimen einen Behandlungsvorschlag für Sehschwäche gesucht und offensichtlich Erleichterung gefunden, denn das Rezept wurde „am Rande“ der Kollegenschaft weitergegeben.
Die Empfehlung zur Stärkung überanstrengter Augen nennt eine Mischung von Kräutern, die heute noch zur Behandlung von Augenentzündungen verwendet werden:
Foeniculum, verbena, rosa, chelidonia, ruta
Ex istis fit aqua, quae lumina reddit acuta. (Zeilen 2&3)
Fenchel und Eisenkraut nimm‘, dazu Rose, Schöllkraut und Raute,
Mach einen Auszug daraus: Dein Auge noch nie klarer schaute!
Mag.a Margit Westermayer