Unter den über 6.000 Exemplaren der Kinderbuchsammlung in der Abteilung für Sondersammlungen findet sich so manches Stück, das auch das Erwachsenenherz höher schlagen lässt. Ein ganz besonderes Exemplar stellt die italienische Erstausgabe des „Pinocchio“ dar, welches unter der Signatur I 235.504 zu finden ist. Carlo Collodis bis heute beliebte Kinderbuchfigur trat erstmals 1881 in einer Serie von Fortsetzungsgeschichten in einer italienischen Wochenzeitung in Erscheinung. Das „Giornale per i bambini“ war eine Beilage zur Tageszeitung „Il Fanfulla“. Der Erfolg dieser Serie und der heftige Protest seines jungen Publikums, das sich mit acht Kapiteln nicht zufrieden geben wollte, veranlasste Collodi dazu, ein Buch daraus zu machen, welches 1883 unter dem Titel „Le avventure di Pinocchio. Storia di un burattion“ in Florenz bei Felice Paggi veröffentlicht wurde.
Diese Ausgabe enthält Illustrationen von Enrico Mazzanti, der auch andere Werke von Collodi ausgestattet hat. Mazzanti war auch als Illustrator für wissenschaftliche Bücher und Belletristik tätig Seine Spezialität waren jedoch Kinderbuchillustrationen. Auf ihn folgten Carlo Chiosti (Ausgabe von 1901), Attilio Mussino (Ausgabe 1911) und zahlreiche andere.
Seit den späten 1970er Jahren wurde das Buch auch als Erwachsenenbuch betrachtet. Durch diese Lesart werden Parallelen zu Episoden aus der Bibel und Bezüge zur spätantiken Satire sichtbar. Pinocchio kann auch als eine Art Narrenfigur gesehen werden, die die erwachsene Leserschaft zur Selbstreflexion bewegt. Hinter der scheinbar optimistischen Pädagogik, ist der Roman eigentlich voll trauriger Ironie, manchmal satirisch, insbesondere mit Bezug auf die formale Bildung und richtet sich gegen einige Widersprüche und Unzulänglichkeiten der Erziehung, Sitten und Bildung des 19. Jahrhunderts.
Es gibt auch seit längerer Zeit eine esoterische Interpretationstradition, die sich darauf begründet, dass Collodi angeblich einer florentiner Freimauerloge war. Demnach wird Pinocchio, eine hölzerne Marionette, als Symbol der mechanischen Natur des Menschen, der seine Seele zurückzugewinnen strebt, gesehen.
Die Abenteuer des Pinocchio sind in etwa 240 Übersetzungen zu lesen und sind somit das am häufigsten übersetzte und verkaufte Buch der italienischen Literatur. Seinen Namen verdankt die berühmte Marionette dem "Fonte di Pinocchio", der sich in Colle di Val d'Elsa befindet, wo Collodi, der eigentlich Carlo Lorenzini hieß, studiert hat.
Mag.phil. Katharina Mitsche