Am 9. Juli 1785 wurde das Augustiner Chorherrenstift zu Stainz in der Weststeiermark aufgehoben. Die dort befindliche Bibliothek – sie umfasste etwa 2.500 Bände – wurde “in 72 langen Verschlägen“ nach Graz transferiert. Heute sind noch etwas mehr als dreihundert Titel aus dieser ehemaligen Bibliothek im Bestand der Universitätsbibliothek Graz nachweisbar. Im Zuge der Bearbeitung dieser Bestände fiel ein Titel besonders auf, der sich wie ein barocker Krimi liest:
Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians, und seiner Complicen Leben und Ubelthaten.
Dresden 1716. Gedruckt und verlegt bei Johann Christoph Krause.
Das Buch beschreibt die Geschichte eines um 1675/83 möglicherweise in der Straßburger Gegend geborenen Mannes, dessen Identität nicht ganz klar ist (Elias Erasmus Schönknecht oder Philipp Mengstein). Möglicherweise hatte der Mann seinen Militärdienst quittiert oder quittieren müssen, ehe er als Anführer einer Diebs- und Räuberbande in der Gegend von Prag und dann von Dresden bekannt wurde. Lips Tullian wurde mehrfach verhaftet und eingekerkert. Immer wieder konnte er fliehen. Schließlich wird er im Jahre 1715 durch das Schwert hingerichtet.
Die Geschichte des Lips Tullian ist nicht nur eine Räubergeschichte. Sie steht auch für eine spätneuzeitliche Rechtsauffassung, die ihre Geständnisse unter der Folter hervorbringt. Natürlich ist die Geschichte auch ein Exempel dafür, wie die Kirche die Verirrten in die überirdische Seligkeit heimführt. Als solche beispielhafte Lehrgeschichte wird der Stoff wohl auch gemeint gewesen sein. Wofür hätte man sonst die Kosten aufgebracht und den Anführer einer Mörder- und Diebesbande in einem fünfhundertseitigen Buch geehrt? Das Buch wird bestimmt als abschreckendes und belehrendes Beispiel gedient haben. Und so kam es auch in einer monastischen Bibliothek zu stehen.
Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr. Erich Renhart
Mehr über Lips Tullian finden Sie z.B. in der Wikipedia