Michael Köhlmeier ist Literat, aber auch Geschichtenerzähler - seine freien Nacherzählungen antiker Stoffe begeistern Zuhörer und Leser, weil er alte Stoffe in eine heutige Sprache überträgt und sie so zugänglich macht.
In der Handschrift 454 der Universitätsbibliothek Graz begegnet uns Chuonradus, ein Schreiber des Skriptoriums des Stiftes St. Lambrecht aus dem 12. Jahrhundert. Während Köhlmeier die dichterische Freiheit genießt, sich seine Stoffe selbst auszuwählen, wurde Chuonradus von seinem „Chef“ mit der Handschrift betraut. Hartwicus, der Propst des Stiftes beauftragte eine „Historiographie“ – ein Geschichtebuch, das in lateinischer Sprache verfasst und vermutlich für den Unterricht eingesetzt worden ist. Dass es sich um ein Gebrauchsbuch handelt, erkennt man nicht nur an den starken Benützungsspuren, sondern auch am Pergament, das viele Löcher und Risse aufweist und an einer Stelle von einem sehr sparsamen „Layouter“ zeugt, der auch einen unüblichen Randbereich des Pergaments noch zu einem Blatt gemacht hat (Blatt 176).
Die Historiographie umfasst zum größten Teil die römische Geschichte, aber auch die Geschichte der Franken und die König Theoderichs. Das Werk ist bedeutend, weil es sich um eine Kompilation von vielen Quellen handelt. Chuonardus hat, wie Köhlmeier heute, antike Stoffe für seine Zeit neu erzählt. Welche Stoffe er verwendet hat, wissen wir, weil es auf der Rückseite des ersten Blattes vermerkt ist. Über eine halbe Seite lang sind nicht nur die Besitzvermerke aufgelistet und ist unser Schreiber „Chuonradus“ genannt, sondern auch die Quellen, aus denen er sein Geschichtsbuch kompiliert hat: antike Textvorlagen wie Orosius, der im 4. Jahrhundert eine Art „Chronik der Katastrophen“ verfasst hat, oder Jordanes, der im 6. Jahrhundert eine Geschichte der Goten (neu)verfasst hat. Auch die Vorlagen von Pompeius Trogus, Titus Livius oder Nicephoros wurden von Chuonradus „eingearbeitet“. Die jüngste und vermutlich originärste Vorlage war die „chronica sive historia de duabus civitatibus“ des Otto von Freising, dem bedeutendsten Geschichtsschreiber des Mittelalters.
Die Handschrift 454 ist ein kompakter Codex, der offensichtlich in einem durchgeschrieben wurde – ob immer von der gleichen Hand, gilt es noch genauer zu prüfen – bei Blatt 106 gibt es einen eindeutigen „Handwechsel“ an einen anderen (unerfahreneren?) Schreiber. Tinte und anderer Schreibstil lassen diesen Schluss zu. Köhlmeier würde es uns so erzählen: „Chuonradus hat kurz das Pult verlassen, dann aber gleich gesehen, dass das nichts wird und ab Blatt 107 wieder selbst die Feder zur Hand genommen…“
Der Text zur römischen Geschichte, der über 190 Blatt geht, ist mit zahlreichen Randbemerkungen, Kommentaren und Notizen versehen. An vielen Stellen gibt es Rasuren, Kommentare wurden entfernt, teilweise durch andere ersetzt – es handelt sich um ein offenbar wirklich stark benutztes und auch diskutiertes Werk.
Überraschend sind die aufwändigen Initialen, die Großteils dreifärbig ausgeführt sind. Federgezeichnete Spaltleisteninitialen mit schraffierten Ranken und Blattmustern verleihen dem Codex eine wertvollere Aura. Er wurde im 15. Jahrhundert neu gebunden und auf der Deckelinnenseite vorne und rückwärts mit einem Papierfragment verklebt. Dieselben Fragmentseiten finden sich in einer ebenfalls aus St. Lambrecht stammenden Inkunabel (UBG Signatur III 9849), ebenfalls an den beiden Innenseiten der Deckel. Dies lässt den Schluss zu, dass die Buchbinderei, die beide Werke neu gebunden hat, mit Makulatur-Restlagen einer Druckerei gearbeitet hat. Welche Druckerei das gewesen sein könnte? Das ist eine der Fragen, die die Handschrift 454 für die Forschung interessant macht – aber auch für Geschichtenerzähler wie Michael Köhlmeier.
Mag. Katharina Kocher-Lichem
Abschlussarbeit im Rahmen des Wahlfaches 2.3 Buch- und Bibliotheksgeschichte
(ULG Library and Information Studies)