Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der Staat und Religion klar voneinander getrennt sind. Die Welt des Mittelalters kannte diese Trennung nicht. Die geistliche Gesetzgebung war von ebenso großer, wenn nicht sogar größerer Bedeutung als die weltliche. Während die weltliche Gesetzgebung auf dem Corpus Iuris Civilis, einer Neukodifikation des römischen Rechtes aus dem 6. Jahrhundert, basierte, war die Grundlage kirchlicher Gesetzgebung der Corpus Iuris Canonici.
In den Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz findet sich eine Abschrift des ersten von sechs Teilen dieses mittelalterlichen Rechtstextes mit der Signatur Ms 52: das Decretum Gratianum.
Mitte des 12. Jahrhundert stellte Gratian († um 1158), ein in Bologna tätiger Rechtsgelehrter, die erste Sammlung kirchlicher Gesetzgebung zusammen. Er sammelte dafür fast 4.000 kirchenrechtliche Texte wie Konzilsbeschlüsse (canones) oder päpstliche Entscheidungen (decretales) und versah diese mit Kommentaren (dicta).
Spätere Rechtsgelehrte nahmen dieses Werk als Grundlage und fügten weitere Kommentare (Glossen) hinzu. So entstand das im Mittelalter typische Layout für geistliche ebenso wie weltliche Rechtshandschriften: in der Mitte findet sich eine Abschrift der Rechtssammlung, des Decretum Gratianum, die von den umfangreichen Kommentaren des Glossators eingerahmt wird. Man spricht hier von einer Glossenhandschrift. Der Glossentext stammt im Falle der Ms 52 von dem rund hundert Jahre nach Gratian in Bologna tätigen Kirchenrechtler Bartholomaeus von Brescia († 1258).
Glossenhandschriften lassen die Natur mittelalterlicher Bücher deutlicher werden. Bücher wurden nicht als abgeschlossene Wissensspeicher wahrgenommen, sondern als sich verändernde Objekte, die immer wieder an die Bedürfnisse des aktuellen Besitzers angepasst wurden. Auch in der Handschrift Ms 52 wurden im Verlauf von 200 Jahren von unterschiedlichen Händen neue Kommentare dazugeschrieben, Textteile vom Pergament abgeschabt und durch andere Passagen ersetzt, oder sogar ganze Seiten mit abweichendem Text dazu gebunden.
So kommt es, dass es in Österreich zwar 17 weitere Abschriften[1] des Decretum Gratianum mit den Glossa ordinaria Bartholomei Bixiensis gibt (darunter auch die Ms 69 der Universitätsbibliothek Graz), dass aber keine der Handschriften äußerlich wie inhaltlich mit der Ms 52 der UB Graz identisch ist.
Mag. Pia Fiedler BA, Abschlussarbeit im Rahmen des
Wahlfaches 2.3 Buch- und Bibliotheksgeschichte (ULG Library and Information Studies)
[1] F. Eheim, Die Handschriften des Decretum Gratiani in Österreich (Studia Gratiana 7) 1959, S. 128.